Die IST- Situation

Unsere Entscheidung zur Großfamilie fiel eigentlich eher spontan oder zufällig oder passierte einfach. Auf jeden Fall war es nicht bewusst. Wir hatten nie den Plan vier Kinder in die Welt zu setzen. Aber wir haben sie. Und wir lieben sie. Alle. Uneingeschränkt. Trotz aller Sorgen, Nöte, Probleme, Ängste die sie uns verschaffen. Viele Kinder heißt auch viel Liebe, viel Glück. Aber es kann eben auch viele Sorgen bedeuten. Egal ob es um die Leukämie der Erstgeborenen geht, das Mobbingproblem von Kind 2 oder nun eben die ADS bei Kind 3. Langweilig wäre uns auch ohne all das nicht. Nun ist es aber so.

Wir werden ihn gehen. Egal wie steinig er ist. Es bleibt uns ja auch nichts anderes übrig. Aufgeben ist keine Option.

Unser Kind 3 ist derzeit 11 Jahre alt. Er hat so viele Talente und Vorzüge und mindestens genauso viele Handicaps. Natürlich lieben wir ihn und sind glücklich ihn zu haben, auch wenn er unser Leben manchmal ganz schön kompliziert macht. Er ist einer von der aufmerksamen Art, einer der helfen will, der dabei sein will- sofern er gut drauf ist. Und ist er gut drauf, ist da immer dieser Ticken zuviel. Zuviel Aufmerksamkeit, zuviel Hilfe, hart an der Grenze zur Aufdringlichkeit. Keine Akzeptanz für ein „nein, danke“. Ist er schlecht drauf, ist Ignoranz die noch erträglichste Reaktion.

Unsere IST- Situation ist daher vor allem eins: laut. Unser Alltag ist geprägt von ständigen Diskussionen, permanent und über alles. Jegliche Kleinigkeit die korrigiert werden soll, wird stundenlang diskutiert! Was nicht selten in Auseinandersetzungen und Streit endet. Er kann unwahrscheinlich aggressiv reagieren, dann fallen zumeist verletzende Sätze wie „Ihr seit die doofsten Eltern die man haben kann!“. Was für uns als Eltern noch einigermassen abzufangen ist, weil man sich sagt, er meint das nicht so, er ist frustriert, der Frust muss raus. Diese Differenzierung ist für Geschwisterkinder ungemein schwieriger. So kommt es hier sehr oft zu ungewollten Verletzungen. Im Gegenzug ist er oft sehr negativ, auf sich selbst bezogen. Der Meinung er weiss nichts und er kann nichts, er taugt nichts und wir seien besser dran ohne ihn. Auch das ist schwierig. Man sollte in Streitsituationen grundsätzlich erst denken und dann sprechen, aber in Bezug auf ein solches Kind, muss wirklich jedes Wort bedacht werden. Ansonsten schafft man Argumente, die einem sprichwörtlich das eigne Grab schaufeln. Und dann gibt es noch diese Seite… die beinahe gefürchteter ist, als die beiden Anderen zusammen… eine Art Frühkindlichephase- Modus. Hier fliessen Tränen. Strömeweisse, ausgelöst von absoluten Nichtkeiten. Unkontrollierbar. Unabstellbar. Allein die Tatsache, das der Sattel seines Fahrrades einen Ticken zu hoch ist, kann mitten auf dem Radweg einen minutenlangen Tränenstrom auslösen. In dieser Situation gibt es keine Hilfe. Er ist für keinerlei Argumente zugänglich. Alle Türen sind zu. 100% Blockade. Man ist aussen vor. Und gerade in solche einer Lage hilft nur Aussitzen. Das kostet sehr sehr viel Geduld und Selbstdisziplin. Ganz besonders wenn es nicht nur im Familienkreis, sondern vor Dritten geschieht.

Das mag auf den ersten Blick nach einem normalen Kind klingen, das auf die Pubertät zusteuert und entsprechend seine und unsere Grenzen austestet. Ist es nicht. Wir haben zwei ältere Kinder, im Vergleich hierzu war die Pubertät ein Spaziergang. Denn die oben beschriebenen Reaktionen gibt es nicht nur manchmal. Sondern immer! Seine Reaktionen oder auch Aktionen schlagen immer in eine der drei Richtungen. Es gibt einfach kein Mittelmass. Das Schwierige ist, er tut es immer. Eine einfache Ansage setzt einen ewig währenden Kreislauf in Gang. „Wasch Dir die Hände“: die Diskussion beginnt bei „habe ich schon gemacht“ (obwohl man direkt neben dem Kind steht und weiss, es ist anders) und führt über „aber warum„ und „die Anderen müssen auch nicht“, hin zu “immer zwingt ihr mich“. So dauern Miniaufgaben, wie das Hände waschen, ewig.

Natürlich ist es nicht nur der Zeitfaktor. Wobei auch, in Anbetracht der Fülle der Zeit, die hier einfach „draufgeht“, anstrengend ist. Der emotionale, gefühlte Stressfaktor ist immens höher. Wir sind Beide berufstätig. Der Hase gelegentlich auch auf Montage. Hat mein Homeoffice viele Vorzüge, so hat es auch  einen deutlichen Nachteil: Wie bei allen Selbständigen, arbeite ich auch viel mehr als Vollzeit. Und muss meinen Job irgendwie zwischen Kinder und Haushalt quetschen.

Wir bemühen uns, bewusst und reflektiert, darum ruhig und besonnen zu bleiben. Dennoch bleibt es auch bei uns nicht aus, dass der Geduldsfaden reißt.

Ist das richtig? Sicher nicht. Ist es menschlich? Absolut. Kind 3 fordert uns und jeden, der mit ihm zu tun hat. Auf allen Ebenen. Ohne Ausnahme. Er ist anstrengend.  Ohne gbösartig zu sein oder das so zu meinen. Er kann einfach nicht anders. Andererseits ist aber auch anlehnungsbedürftig, liebevoll, verschmust und in guten Phasen  aufmerksam und hilfsbereit. Aber auch hier immer den einen Tick zuviel.

Schulisch betrachtet ist es ebenfalls schwierig. Mal abgesehen vom Umgang ist seine springende Aufmerksamkeit und das Chaos, das er produziert, ein echtes Problem. Ein Mitkommen in der Schule, leistungstechnisch, ist nur mit viel häuslicher Fleißmitarbeit zu bewerkstelligen. Wobei  hier schon wieder ein neuer Konflikt- bzw. Reibungspunkt zwischen Kind und Eltern entsteht. Denn Hilfe bekommen und annehmen können sind zwei Paar Schuhe.

So verbringen wir unsere Nachmittage mit Übungen und Wiederholungen. Einfach um Routinen zu schaffen, an die er sich hoffentlich in Prüfungs- oder Stresssituationen erinnern kann. Um ihm einen bekannten  Weg aufzuzeigen, mit der Situation umzugehen. Seine Aufmerksamkeit in die Richtung zu lenken: Das kenne ich, das habe ich schon gemacht. Das mache ich wie immer. Für die Aufgaben heisst das: Lesen, erarbeiten, korrigieren, abgeben.

Jeden Tag aufs Neue! Das ist auch anstrengend. Und es kostet sehr viel Zeit. Zeit die einerseits mir fehlt und andererseits auch den Geschwistern abgeht. Doch  ich nehme sie mir. Schliesslich geht es um mein Kind. Er soll alle Hilfe bekommen, die er braucht. Leider ist vom deutschen Schulsystem hier null zu erwarten. Genauso schrauben wir ihm gegenüber unsere Ansprüche an Ordnung zurück. Der berühmte kleinste gemeinsame Nenner.

Das praktizieren wir seit etwa einem halben Jahr so. Vorher war eine wirkliche Diagnose nicht absehbar. Bzw. war eine Leserechtschreibschwäche im Gespräch und diese wird natürlich ganz anders behandelt und verarbeitet. Im nächsten Teil geht es weiter mit unserem Weg zur Diagnose. Denn der war sehr sehr sehr lang. Eine frühere Diagnose hätte uns allen das Leben wesentlich leichter gemacht. Also wer sein Kind in unserer Beschreibung erkennt, der sollte handeln. ADS ist kein Todesurteil. Und es macht das Kind auch nicht schlechter oder besser. Aber es verändert den Blickwinkel. Ganz erheblich!

Nur wer unvoreingenommen bleibt, bleibt angemessen reaktionsfähig.

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